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Türkei - Demokratische Autonomie als Lösungsvorschlag

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23. Februar 2009
Von Orhan Miroglu
Von Orhan Miroglu

„Was wollen die Kurden?“ Das ist eine uralte Frage in der politischen Geschichte der Türkei. Eine Frage, die naturgemäß an die Kurden gerichtet wird - so würde man denken. Also erwartet man eine vernünftige Antwort auf diese Frage von den politischen Vertretern und Führern der Kurden sowie von kurdischen Intellektuellen.

Diese Frage wurde von den Kurden, die „das Problem“ darstellen, schon beantwortet, auch wenn nicht realistisch oder den Wünschen der Türkei entsprechend. Dies zu verleugnen wäre ungerecht.

Die Antworten wurden jedoch nie diskutiert

Der Staat spricht dieser Frage ihre Bedeutung ab und will uns die Entbehrlichkeit der Frage weismachen. Der Staat stützt sich auf Verleugnung und Verdrängung. „Die Kurden können in diesem Land Abgeordnete, Minister, Gouverneure, Landräte und vieles mehr werden. Unsere Verfassung gewährt allen Bürgern die gleichen Rechte“, denkt man. Daher hört man oft den folgenden Satz: „Ich verstehe nicht, was diese Kurden wollen.“ Doch das ist zynisch. Und ein Versuch, die Sinnlosigkeit der Forderungen zu beweisen.

Die moderne Geschichte der Türkei ist die Geschichte der politischen Beziehungen zwischen den Kurden und den Türken. Die Verleugnung dieser Geschichte, die Ignorierung eines ihrer Subjekte und die Unterdrückung seiner Forderungen unter Einsatz der Staatsmacht –unabhängig davon auf welchem öffentlichen Raum und unter welchen Voraussetzungen die Fordeungen artikuliert wurden-, ist die Realität der politischen Beziehungen zwischen den beiden Völkern.

Keine Fortschritte sind zu verzeichnen

Seit der Gründung der Republik wurde in der Anerkennung der Grundrechte, für die sich die Kurden je nach politischer Atmosphäre und Gegebenheiten eingesetzt haben, kein Fortschritt erzielt. Alle politischen und demokratischen Forderungen wurden mit Gewalt und mit taktisch-politischen Manövern unterdrückt.

Seit den 1980er Jahren führen die Kurden ihre historische Reise zu einem anderen Schicksal allein fort. Den Preis dieser autonomen Reise zahlen alle BürgerInnen der Türkei, unabhängig von ihren ethnischen, politischen und religiösen Identitäten. Wir wissen nicht, wie viele Jahre wir den Preis für diesen blinden Starrsinn noch zahlen werden. Uns steht aber zu, die Geschichte der Republik, inklusive der fortdauernden Tragödie der letzten Jahrzehnte, als eine Geschichte der Blindgläubigkeit zu bezeichnen.

Warum spreche ich vom blinden Starrsinn?

Man bemüht sich vergeblich, die Politik des Staates verstehen zu wollen, indem man die vernünftige Politik zivilisierter Länder von England bis Spanien bei der Lösung ethnischer Probleme heranzieht. Man glaubt, die Kurden hätten außer der Gründung eines autonomen Staates keine Zukunftsvisionen. Unabhängig davon, in welchem Staat die Kurden leben, bilde ihr Kampf für demokratische Rechte und Freiheiten nur eine Zwischenstation auf dem Weg zu ihrem eigentlichen Ziel. Der Glaube und das daraus resultierende politische Handeln, die Spaltung wäre für die Kurden eine fixe Idee, sie seien per se separatistisch, führen uns nirgendwohin.

Das Ziel des kurdischen Volkes ist es, mit allen Völkern desjenigen Landes, innerhalb dessen Grenzen es lebt, friedlich und gleichberechtigt zu existieren. Die Kurden verfügen weder über eine nationale Einheit noch über ein nationales Programm, das sie zur Gründung eines unabhängigen Staates leiten könnte. Alle gewissenhaften Historiker sehen diese Realität ein.
Unter den infolge des Golfkrieges entstandenen Bedingungen wurde die Türkei für den Westen in einer Region mit starkem politischen Islam zum Vorzeigemodell, und dies trotz der Probleme mit dem laizistisch-demokratischen System.

Veränderte Voraussetzungen seit dem Golfkrieg

Die internationale Dimension der Kurdenfrage seit dem Golfkrieg mit ihrem Höhepunkt nach dem Sturz Saddams Husseins sorgt für vollkommen neue Voraussetzungen. Diese beeinflussen die politische Tagesordnung des Mittleren Ostens und auch die Außenpolitik der Türkei. Die Unlösbarkeit der Kurdenfrage und die politische Kultur des Staates, die außer Gewalt nichts anzubieten hat, rüttelten an dem guten Image der Türkei. Die Türkei hat nun Probleme vor allem mit den USA aber auch mit der EU und ihren Nachbarländern.

Seitdem wurden auch die Möglichkeiten zur Lösung der Kurdenfrage angesichts der regionalen Veränderungen neu diskutiert. Auch die politischen Akteure positionierten sich neu. Die Frage „Was wollen die Kurden?“ gewann grundlegend an Bedeutung. Sie ist aber nicht mehr nur die „Kurdenfrage der Türkei“, sondern auch eine, die für die Zukunftsaussichten eines mittlerweile globalen Problems von Bedeutung ist. Denn zum einen ist die soziale und politische Basis der Kurden in den vier Nachbarländern jeweils ganz verschieden und dies bringt für jedes Land unterschiedliche Lösungsalternativen mit sich. Und: Sollte aus der Föderation im Nordirak ein in der nationalen Geschichte der Kurden stets angestrebter aber nie realisierter unabhängiger Staat entstehen, so ist zum anderen vollkommen unklar, wie sich dies auf den demokratisch-politischen Kampf der in den Nachbarländern lebenden Kurden auswirken wird.

Man könnte aber auch behaupten, dass die Gewohnheit, die Entwicklungen nicht aus ideologischer Perspektive sondern aus “nationalem Interesse“ der Kurden zu betrachten, zur neuen politischen Kultur der Kurden geworden ist. Man kann sich auch vorstellen, dass die nationalen Vorstellungen der Kurden durch die zunehmenden Kontakte untereinander, welche aus der zunehmenden Aneignung und Verteidigung von internationalem Recht und dem steigenden regionalen Warenhandel entstehen, stärker werden, in einem mehr oder weniger stärkerem Maße je nachdem, ob das jeweilige Land auf der Nicht-Lösung beharrt oder aber eine demokratische Lösung ergreift. Leider führen die politischen Parteien und der türkische Staat ihre herkömmliche Politik fort und ignorieren die Veränderungen.

Zwei Lösungsalternativen

Andererseits werden die zwei Lösungsalternativen der kurdischen Parteien heute intensiver diskutiert. Eine davon ist der Vorschlag einer Föderation. Die andere sieht die Lösung des Problems in der Entfaltung der Demokratie, kürzlich von den DTP-Abgeordneten im Parlament auf Kurdisch, Englisch und Türkisch im Rahmen des Programms Demokratische Autonomie angeführt und durchaus diskussionswert. Das Programm wurde allerdings unverzüglich als Separatismus bezeichnet und die Tatsache, dass es im Parlament verteilt wurde, als Frechheit verurteilt.

Das Projekt einer Föderation

Die Föderationsidee wird von HAK-PAR (Partei der Rechte und Freiheiten) und einer Gruppe von Politikern unter der Führerschaft von Serafettin Elci vertreten. Die politischen und sozialen Motive, die der Föderationsidee zugrunde liegen, sind in der Öffentlichkeit nicht ausreichend bekannt. In der Türkei herrscht immer noch eine ausgrenzende Psychologie, verursacht durch eine politische Kultur, genährt von dem seit 22 Jahren bis heute andauernden bewaffneten Kampf. Die Zahl der Menschen, die einen ethnischen Konflikt befürchten, nimmt zu. Wie kann in diesem politischen Klima eine Föderation ausschauen? Als eine territoriale Lösung oder unabhängig vom Territorium? Föderation bedeutet nicht Einheit sondern Ganzheit. Die Idee des Föderalismus stützt sich auf die politische Balance zwischen Einheit und Differenz, zwischen einer ethnischen Gruppe, die Autonomie anstrebt, und einer Nation, welche die nationale Hegemonie allein in Anspruch nimmt.

Die Föderation ist nur bei gegenseitigem Respekt möglich

Der Aufbau einer solchen Struktur ist vor allem in Gesellschaften möglich, in denen Gefühle wie gegenseitige Toleranz, Versöhnung, Dialog, Empathie und Respekt für Differenzen ausgeprägt sind. Gesellschaften mit diesen Werten haben die demokratische Kultur verinnerlicht. Das heißt, die Idee der Föderation kann nicht ein Projekt für Gesellschaften sein, deren Volksgruppen nicht mehr zusammenleben wollen und über eine Föderation die Trennung anstreben.

Wenn die Föderation einen territorialen Charakter haben soll, stellt sich die Frage, inwieweit eine ethno-regionale Repräsentation die kurdischen Bürger bei der Nutzung ihrer verfassungsmäßigen Rechte in die Sackgasse führt. Die Hälfte der kurdischen Bevölkerung lebt in Städten der Türkei mit andern Völkern zusammen. In den Regionen mit hohem Kurdenanteil haben die traditionellen Institutionen sowohl im politischen als auch im gesellschaftlichen Leben eine bestimmende Rolle. Seit HEP stagniert der Stimmenanteil der von Kurden gegründeten politischen Parteien in den östlichen und südöstlichen Provinzen bei 20 bis 22 Prozent. Die restlichen Wählerstimmen werden unter den Parteien aufgeteilt, die über kein Programm für eine demokratische Lösung der Kurdenfrage verfügen, aber von den erwähnten traditionellen Institutionen unterstützt werden.

Diese Gruppen, die derzeit die politische Landschaft unter sich aufgeteilt haben, werden im Falle einer Föderation zweifellos zu ethno-regionalen Gruppen. Das ist die Realität und nicht nur ein Problem der Kurden in der Türkei. Die Parteien, die die politischen Dynamiken der kurdischen Gesellschaft bestimmen - inklusive KDP und PUK im Irak - sind nicht für die Entstehung einer Zivilgesellschaft und einer intellektuellen Schicht, die einen intellektuellen Output ermöglichen würden. Der Föderalismus und die für den Föderalismus unentbehrliche demokratische Kultur wird aber von der Zivilgesellschaft und der intellektuellen Produktion genährt. Eine ethische Übereinstimmung zwischen den “Partnern“ ist nur durch diese Kultur möglich.

In einer Gesellschaft, in der ethnische Identitäten oder die Vorherrschaft einer Nation absolut sind, ist der Aufbau föderaler Beziehungen und eines föderalen Systems unmöglich. Für die Verwirklichung eines föderalen Systems müssen die Partner neue Werte aushandeln, die sie teilen können. Die Föderation kann nicht auf einer einzigen gemeinsamen Identität gegründet werden. Die verschiedenen Ethnizitäten, aus denen die Föderation entsteht, müssen das Ideal eines Patriotismus erreichen, der sich nicht ausschließlich in nationalistischen Gedanken erschöpft.
 
In unserem Land kann dieses Ideal im Rahmen eines durch den Verfassungspatriotismus anzustrebenden neuen Rechts des „Türkei-Bürgerschaft (gemeint: citizenship) oder Türkei-Patriotismus“ entstehen. Es ist aber kein Geheimnis, wie weit wir von einem solchen Bürgerschaftsverständnis noch entfernt sind.

Je mehr wir uns diesem Ideal nähern, desto emotionsloser können wir verschiedene Lösungsmöglichkeiten wie Verfassungsbürgerschaft - Verfassungspatriotismus, Vergemeinschaftung, Multikulturalismus, ja sogar Autonomie diskutieren. Wichtig ist, dass wir nicht vergessen, was das Volk denkt. Wichtig sind nämlich nicht unsere Ideen, auch wenn wir von ihrer Richtigkeit vollkommen überzeugt sind, sondern wichtig ist, was das Volk von diesen Ideen hält. Sollten wir daher uns immer noch im Unklaren sein, wie die Kurden auf diese Frage antworten, so kann einzig die Bevölkerung die Antwort geben. Das ist auf vielerlei Art und Weise möglich.

Was will das kurdische Volk?

Zusammenleben: friedlich und ohne verleugnet zu werden; mehr demokratische Rechte erhalten, von der Armut befreit werden, von der Demokratie der Türkei lernen und dieser Demokratie vieles beibringen oder eine Abspaltung und ein föderales System? Meiner Meinung nach will das kurdische Volk das erstere. Die zweite Alternative, also eine föderale Lösung, ist derzeit noch nur als Idee vorhanden.

Gerade unter diesem Gesichtspunkt ist das Konzept der Demokratischen Autonomie ein Projekt, das es wert ist zu diskutieren. Die DTP und die von ihr vertretene politische Traditionslinie betont seit den 1990er Jahren zu jeder Gelegenheit, dass die Kurdenfrage eine Frage der Demokratie und der Anerkennung von Rechten ist. Das Projekt demokratische Autonomie ist lediglich die Ausformulierung dieser Position. Was bedeutet aber demokratische Autonomie in der Türkei und kann sie der Schlüssel zur Lösung der Kurdenfrage sein?

Das Projekt der demokratischen Autonomie

Demokratische Autonomie stützt sich vor allem auf die Neustrukturierung der Beziehungen zwischen der Mitte und deren Rändern auf demokratische Weise und mit demokratischen Mitteln. Hier wird keine Strukturierung nach ethnischen oder territorialen Kriterien angestrebt. Im Programm wird als Grundlage der demokratischen Autonomie das Schaffen einer freiheitlichen und demokratischen Gesellschaft genannt. Im Einklang damit wird betont, dass „die türkische Republik von Türken, Kurden und anderen ethnischen Gruppen gegründet wurde“. „Die Brüderschaft der Völker ist tief in der Geschichte angelegt“.

Die Forderung nach demokratischer Autonomie hat nichts mit der Forderung nach einem neuen Nationalstaat zu tun. Gemäß der DTP, welche sich für die demokratische Autonomie einsetzt, ist es „unter Berücksichtigung der Diskussionen, der weltweiten Erfahrungen und der Entwicklungen im mittleren Osten offensichtlich, dass die Staatsbildung, insbesondere auf nationaler Basis, mehr zur Unterdrückung der Völker als zu Demokratie und Freiheit führt.

Grundzüge des Vorschlags für eine demokratische Autonomie

Die Grundsätze der demokratischen Autonomie sehen nicht nur für die Lösung der Kurdenproblematik sondern auch für die Verwaltung und die politische Struktur der Türkei insgesamt grundlegende innovative Reformen vor. Daher kann dieses Projekt auch als ein Türkei-Projekt betrachtet werden. Daher lohnt es, die seine Grundsätze zu diskutieren:

  • Die demokratische Autonomie tritt für grundlegende Reformen in der Verwaltung und Sozialstruktur, für die Partizipation der Bevölkerung an Entscheidungsprozessen und für eine regionale und lokale Strukturierung ein, wobei die kulturellen Differenzen frei artikuliert werden können. Demokratische Autonomie richtet sich gegen eine ethnische und territoriale Autonomie.
  • Die Fahne und die offizielle Sprache bleiben für die gesamte Nation der Türkei gleich. Jede Region und jede autonome Einheit soll aber mit ihren eigenen Farben und Symbolen eine demokratische Selbstverwaltung bilden.

Die Lösungsvorschläge lauten weiterhin unter anderem weniger Staat, mehr Gesellschaft; Nation der Türkei statt türkischer Nation und zum Problem der Über-Identität der Vorschlag „aus der Türkei stammend“.

Hinsichtlich der Änderung des Verfassungsparagrafen, welcher bisher auf Ethnizität basiert, wird der folgende (vernünftige) Vorschlag gemacht: „Die Verfassung der Republik Türkei akzeptiert, dass alle Kulturen demokratisch existieren und sich artikulieren können“.

Es ist schwer nachvollziehbar, wie man hieraus einen „Separatismus“-Gedanken herauslesen soll. Die Initiatoren dieses Projekts kennen natürlich das politische Klima, das solche Anschuldigungen begünstigt und erklären daher ihr Projekt wie folgt: „Diese Struktur bedeutet nicht Föderalismus oder eine ethnische Autonomie. Sie ist eine administrative Veränderung, die von einer abgestuften partizipativen Demokratie zwischen Zentralregierung und Provinzen ausgeht.“ Man kann hierbei an die „Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung“ denken, die 1988 angenommen und 1992 durch die Türkei mit Vorbehalten unterzeichnet wurde. Sollten die „gefährlichen“ Paragrafen der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung eines Tages im Parlament diskutiert werden – das sind Paragrafen, welche eine Demokratie auf regionaler Ebene vorsehen -  so werden die Parlamentarier ähnlich reagieren. Die politische Kultur der Türkei ist leider noch weit davon entfernt, auf Anträge und Entwürfe einzugehen, die an der Vorherrschaft des Nationalstaates rütteln könnten.